Politik sollte bei Selbständigkeit Fokus auf Chancen legen

Selbstständigkeit

Von Carlos Frischmuth und Kai Haake

Die Innovationskraft der deutschen Wirtschaft hat uns über Jahrzehnte einen Spitzenplatz unter den wettbewerbsfähigsten Ländern weltweit verschafft. Einen wesentlichen Anteil daran haben die etwa 3,7 Millionen Selbstständigen. Zwei Millionen der Selbstständigen haben keine eigenen Mitarbeiter. Die Politik bezeichnet diese als Solo-Selbstständige. Zu ihnen zählen Selbstständige aus unterschiedlichsten Berufsfeldern, darunter Künstler, Journalisten und externe Experten wie z.B. IT-Spezialisten oder Ingenieure. Sie tragen mit ihren Kenntnissen, Fähigkeiten und dem berühmten unabhängigen „Blick von außen” wesentlich zur Innovationskraft Deutschlands bei. Im Zeitalter der digitalen Transformation mit immer kürzeren Produktlebenszyklen und dem damit verbundenen Innovationsdruck sind Projektarbeit und flexible Arbeitsformen nicht mehr wegzudenken.

In politischen Debatten wird vermehrt eine Prekarisierung von Selbstständigkeit konstruiert. Statt hier pauschal zu urteilen, sollte mit Augenmaß vorgegangen werden. So müssen beispielsweise Gründungsphasen und bewusste Nebenerwerbstätigkeiten differenziert betrachtet werden. Die Zahlen zur Selbstständigkeit aus dem Mikrozensus oder dem sozioökonomischen Panel liefern wenig Erkenntnisse über die grundsätzliche Schutzbedürftigkeit von Selbstständigen. Insgesamt ist die Datenlage und Empirie zu Selbstständigen in Deutschland sehr schwach.

Zudem leiden Selbstständige und Auftraggeber aufgrund unklarer Gesetze und behördlicher Verfahren unter einer latenten Rechtsunsicherheit, welche gerade bei Selbstständigen negative Auswirkungen auf deren Auftragslage hat. Ungeachtet des klaren Bekenntnisses des Bundestags zum Projekt-, IT- und Beratergeschäft im Rahmen der Novellierung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze schwebt über vielen Selbstständigen weiterhin das Damokles-Schwert der Scheinselbstständigkeit. Die Notwendigkeit einer präziseren und vor allem realitätsnahen Abgrenzung im Rahmen des Statusfeststellungsverfahrens besteht weiterhin.

Die Verfahren dauern zu lange, sind rein retrospektiv ausgerichtet und nicht vor Aufnahme eines Auftrages durchführbar. Zudem werden Kriterien herangezogen, die in der heutigen modernen, dienstleistungsorientierten Arbeitswelt nicht mehr zur Unterscheidung zwischen Selbstständigen und Angestellten geeignet sind. Hier sollte der Gesetzgeber verlässliche, vorhersehbare, vor allem aber realitätsnahe Kriterien zur Einordung von Selbstständigkeit unterstützen, wenn nicht sogar festlegen. Klar definierte Positivkriterien, wie beispielsweise eine Vergütungskomponente – wie sie erst kürzlich durch das Bundessozialgericht als Unterscheidungskriterium anerkannt wurde – oder die eindeutige vertragliche Ausgestaltung der Beauftragung (Vertragsmuster analog zu EVB-Dienstvertrag der öffentlichen Hand) stellen dabei praxisorientierte Lösungsansätze dar. Insgesamt sollte die Prüfung transparent, die Prüfkriterien in Hinblick auf die moderne und digitalisierte Arbeitswelt angepasst und die Dauer des Verfahrens verkürzt werden.Die Gruppe der Selbstständigen zeichnet sich durch eine enorme Bandbreite aus. Neben der klassischen Selbstständigkeit, wie wir sie von Rechtsanwälten und niedergelassenen Ärzten kennen, gibt es Web-Designer, Berufssportler oder Kameraleute. Hinzu kommen junge Gründer, die in Voll- oder Teilzeitselbstständigkeit ein Start-up aufbauen, oder solo-selbstständige Wissensarbeiter, die als IT- oder Unternehmensberater im Markt aktiv werden. Die Wahrheit ist: es existieren hunderte unterschiedliche Tätigkeitsfelder in Selbstständigkeit. Betrachtet man in diesem Zusammenhang Fragen der Eigenvorsorge von Selbstständigen, wird schnell klar, dass hier pauschale Antworten für alle Selbstständigen keine Lösung sein können.

Mit Blick auf die Altersvorsorge stellt sich für einen hochqualifizierten Experten weniger die Frage der grundsätzlichen Finanzierbarkeit der Altersvorsorge, als vielmehr die Frage nach der Wahlmöglichkeit zwischen gesetzlichen und privaten Anlageformen. Soziale Absicherung ist auch für Selbstständige ein wichtiges Thema, da diese Gruppe selbstverständlich ein hohes Eigeninteresse hat, ihren erworbenen Lebensstandard zu erhalten. Selbstständige sorgen auf verschiedenen Wegen für ihr Alter vor. Dazu zählen Anlageformen wie Immobilien, die Rürup-Rente, Lebensversicherungen, Aktien oder Fonds, die heute schon das Fundament der Vorsorge vieler Selbstständiger bilden. Keinesfalls darf eine Vorsorgepflicht in der Gesetzlichen Rentenversicherung dazu führen, dass bereits bestehende rentable Anlageformen umgewandelt oder aufgegeben werden müssen. Eine Alternative könnte daher auch eine allgemeine, in der Anlageform freie, verbindliche Vorsorgepflicht mit Nachweispflicht sein. Zumindest aber sollte im Rahmen einer gesetzlichen Vorsorge die Möglichkeit bestehen, ab einer gewissen Einkommensgrenze zwischen gesetzlicher und privater Vorsorge wählen zu können. Das Sozialgesetz kennt bereits solche, an eine bestimmte Einkommensgrenze gekoppelten, Wahlmöglichkeiten wie z. B. die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Einbeziehung aller Selbstständigen in die Gesetzliche Rentenversicherung ohne Bestandsschutz und Differenzierungsmöglichkeiten wäre der falsche Weg.

Für einen Gründer oder einen Selbstständigen, welcher nur in geringem zeitlichen Umfang tätig ist, stehen im Hinblick auf die Altersvorsorge andere Fragen im Vordergrund. Besonders in der Existenzgründungsphase (3 – 5 Jahre ab Gründung) – in welcher häufig Ersparnisse aufgezehrt und Anlaufverluste überwunden werden müssen – darf es keine zusätzlichen Belastungen geben. In der Praxis müssen liquide Mittel zunächst in die Sicherung und den Ausbau der Selbstständigkeit fließen. Diese Mittel werden aber heute zum großen Teil zur Beitragsaufwendung zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung eingesetzt. Der Mindestbetrag für Selbstständige in der gesetzlichen Krankenversicherung beläuft sich auf ca. 400 EUR monatlich. Dies kann im schlimmsten Fall zu einer Schuldenfalle oder Insolvenz führen. Hier muss der Gesetzgeber nachbessern, wenn er Selbstständige nicht über Gebühr im Verhältnis zu Angestellten belasten und Gründertum fördern möchte.

In all diesen wichtigen Fragen wählt das Weißbuch „Arbeiten 4.0” des BMAS bedauerlicherweise nur sehr pauschale Ansätze und behandelt die differenzierten Fragen eher oberflächlich.
Die im Weißbuch häufig angesprochenen Plattformen und Crowdworker existieren, bisher aber nicht in der Intensität, die man nach Lektüre des Weißbuches vermuten würde. Sie sind Teil und Konsequenz einer globalisierten und technisierten Welt und verdeutlichen, dass der Wettbewerb zunehmend losgelöst von nationalstaatlichen Grenzen stattfindet.
Das Weißbuch fordert kollektive Organisationstrukturen, in denen sich Selbstständige organisieren sollen, um ihre Interessen zu vertreten. Dass dies bereits seit Jahren außerhalb der etablierten Gewerkschaften geschieht, greift das Weißbuch jedoch nicht auf.

Insgesamt sollte die Politik den Fokus mehr auf die Chancen neuer Geschäfts- und Arbeitsmodelle legen, anstatt zu versuchen, die Zeit durch überregulierende Schutzmechanismen einzufrieren. Deutschland muss international den Anschluss halten und weiterhin Hochtechnologiestandort bleiben. Dazu ist es notwendig, dass eine moderne Arbeitsmarktpolitik in puncto Selbstständigkeit vor allem die Datenlage und Empirie verbessert, um auf dieser Basis Regulierung richtig dosieren zu können. Gemäß dem Ingenieursprinzip „Messen-Steuern-Regeln”, aber nicht in umgekehrter Reihenfolge. Daneben ist gleichzeitig die überbordende Bürokratisierung abzubauen.


Entscheidend ist vor allem eine Differenzierung von Selbstständigkeit, da es sich hierbei um keine monolithische Struktur handelt, sondern um eine äußerst heterogene Gruppe, die sich insbesondere in den kommenden Jahren weiter stark verändern wird. Die Politik muss den ökonomischen Mehrwert der Selbstständigen erkennen und eine klare Strategie entwickeln, um Gründer und Selbstständige in ihren Vorhaben zu unterstützen. Dazu ist es auch notwendig, dass die Bundesagentur für Arbeit und die Politik Gründungswillige finanziell wieder stärker fördern. Die einstigen staatlichen Unterstützungen, wie z.B. Mikrokredite und Gründungszuschüsse bzw. -seminare, wurden in den vergangenen Jahren stark abgebaut. Zudem fehlt es weiterhin in Deutschland an Risikokapital.

 

Der Beitrag ist Teil des Sammelbandes, "Arbeit 4.1: Odnungspolitische Kommentierungen der Weißbuch Empfehlungen", herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Zu den weiteren Autoren gehören Vertreter der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft - vbw, des Bitkom, des VDMA, des BVAuU sowie des Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Das komplette Ringbuch finden Sie in digitaler Form auf der Seite der Konrad-Adenauer-Stiftung unter folgendem Link.